Michael Toch (Hg.): Wirtschaftsgeschichte der mittelalterlichen Juden. Fragen und Einschätzungen (= Schriften des Historischen Kollegs. Kolloquien; 71) […], dans: sehepunkte 10 (2010), nr. 2 [15.02.2010]
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Critique
Als Forschungsstipendiat des Historischen Kollegs in München im Kollegjahr 2004/2005 widmete Michael Toch sich dem Thema der Wirtschaftsgeschichte der mittelalterlichen Juden. In dieser Zeit veranstaltete er unter anderem ein dreitägiges internationales Kolloquium, das « die Wahrnehmung jüdischen Wirtschaftsverhaltens durch die christliche Mehrheitsgesellschaft; die Stellungnahmen zur Geldleihe an Nichtjuden im innerjüdischen religiösen Denken » behandelte (VIII).
Im Rahmen zahlreicher einschlägiger Untersuchungen hatte Toch zuvor bereits unter anderem das in der Germania Judaica versammelte Material zu diesem Thema ausgewertet. Nicht zuletzt war es das Ziel seiner Arbeiten zu verdeutlichen, dass es auch « Wirtschaftsgeschichten » der Juden jenseits der geläufigen Stereotype des reichen Juden gibt, der als Geldhändler sein Brot verdiente. Diesem Erkenntnisziel sind auch die Beiträge des vorliegenden Sammelbandes verpflichtet, der aus der Münchener Tagung hervorgegangen ist.
In dem Sammelband werden zunächst übergreifend die christliche Wahrnehmung jüdischer Wirtschaftstätigkeit (Giacomo Todeschini, 1-16) und die Problematik der Zinsnahme von Nichtjuden im jüdischen Recht (Hans-Georg von Mutius, 17-23) behandelt. Daran schließen sich drei Aufsätze an, die der wirtschaftlichen Betätigung der Juden in Byzanz (David Jacoby, 25-48), Sizilien und Süditalien (David Abulafia, 49-62) sowie in Venedig und dessen Besitzungen (Reinhold C. Mueller) gewidmet sind. Diesen Überblicken hätte auch der an das Ende des Bandes gesetzte Beitrag des Herausgebers angereiht werden können, der den deutschen Raum behandelt (Michael Toch, 181-210).
Die übrigen fünf Beiträge befassen sich mit spezielleren Fragen: Dem Umgang mit christlichen Kirchengegenständen, die als Pfänder in die Hände jüdischer Geldleiher gelangt waren (Joseph Shatzmiller, 93-102), der Einordnung eines der äußerst selten überlieferten jüdischen Rechnungsbücher in die allgemeine Praxis der Buchführung (Annegret Holtmann, 103-120), der Rolle der Juden als Münzmeister, Zollpächter und Finanzbeamten (Markus J. Wenninger, 121-138), der Armenfürsorge (Rainer Barzen, 139-152) und der Bedeutung der jüdischen Frauen (Martha Keil, 153-180).
Bedauerlicherweise wurde dem Band keine Zusammenfassung beigegeben. Dies dürfte dadurch begründet sein, dass der Herausgeber unter dem vorgelegten Band ausdrücklich keine « einzige und das ganze mittelalterliche Europa verpflichtende Wirtschaftsgeschichte der Juden » versteht, da nicht alle angefragten Bereiche abgedeckt werden konnten (VIII). Dennoch soll an dieser Stelle der Versuch unternommen werden, einige der Punkte festzuhalten, die in dem Band wiederholt angesprochen werden und zu weiterer Forschung inspirieren.
Zu erwähnen ist vor allem die große Breite der von Juden ausgeübten Berufe. Der Index gibt darüber beredte Auskunft. Neben Geldleihern und Bankiers treten Alchemisten, Bäcker, Dienstboten, Färber, Finanzbeamte, Fleischer, Gerber, Hutmacher, Köche, Pfandleiher, Schmiede und Schuhmacher, vor allem aber Ärzte, Handwerker, Kaufleute und Zöllner bzw. Zollpächter auf.
Besonderes Interesse sollte aber auch der häufig belegten engen Zusammenarbeit zwischen Juden und Christen gelten, die bei Weitem nicht nur in Finanzsachen erkennbar wird. Einige der in dem Band angeführten Beispiele sind ein jüdischer Maurer und dessen christlicher Partner, die 1420 in Candia gemeinsam eine Zisterne bauten (36), jüdisch-christliche Seidengeschäfte (57), und natürlich die « intensive Zusammenarbeit der jüdischen und lombardischen, teilweise auch einheimischen, Finanzfachleute », die für Görz belegt ist (125).
Ein weiteres Verdienst der in dem Sammelband vereinten Beiträge ist es, dass die Kenntnis des mittelalterlichen jüdischen Geldhandels nachhaltig vertieft wird. David Abulafia stellt etwa heraus, dass sich Friedrich II. 1231 mit der Regulierung des jüdischen Geldverleihs in den Konstitutionen von Melfi auf höchst theoretischem Gebiet bewegte, da sich die sizilianischen Juden zu jener Zeit nicht sonderlich im Geldhandel engagierten. Vielmehr dürften die Konstitutionen die Regelungen der Laterankonzilien imitieren, wo Juden ebenfalls nicht mehr als Christen am Geldverleih verdienten (51). Diese Feststellung verdeutlicht, dass man die Kritik am jüdischen Geschäftsgebaren eher im Zusammenhang mit dem Armutsstreit und dessen Auswirkungen auf kirchliche und weltliche Gesetzgebung zu sehen haben dürfte als im Kontext realen wirtschaftlichen Handelns.
Vielmehr wird der Nutzen deutlich, den die Finanzversorgung von den Dienstleistungen der jüdischen Geldleiher hatte: In Apulien etwa füllten Christen die Lücke der jüdischen Finanzleute, doch nahmen sie weitaus weniger Rücksicht auf ihre Gläubiger (55). Überhaupt wird man die Bedeutung der jüdischen Geldleiher ohne tiefere Kenntnisse des mittelalterlichen Geldwesens mit seinem teilweise massiven Mangel an Edelmetallmünzen kaum gerecht beurteilen können. Nur so lässt sich etwa die hohe Nachfrage nach Krediten erklären, obgleich sie zu Zinsen in Höhe von 40 Prozent vergeben wurden (54). Reinhold C. Mueller stellt eine weitere verblüffende Tatsache heraus: In Venedig bestand ein direkter Zusammenhang zwischen der Höhe der Judensteuer und der zulässigen Zinshöhe! Im Jahr 1385 hatten die Juden dort die Wahl zwischen Zinsen in Höhe von 10 bis 12 Prozent bei einer Steuer von 4.000 Dukaten und Zinsen in Höhe von 8 bis 10 Prozent und keiner Steuer. Da die höheren Zinsen sich im Verhältnis zu der jährlichen Steuer nicht gerechnet hätten, verzichtete man darauf (71).
Obgleich in dem Sammelband verschiedentlich herausgestellt wird, dass Handel und Geldverleih eindeutig die wichtigsten Geschäftsbereiche der mittelalterlichen Juden waren, ergeben sich in diesem Werk somit zahlreiche interessante Nuancen dieses häufig allzu undifferenzierten Bildes. Tochs Aufruf zur Überwindung eingefahrener Geschichtsbilder im Bereich der Wirtschaftsgeschichte der Juden sollte daher ernst genommen werden. Entsprechende Grundlagen hat nicht zuletzt die Forschergruppe um Alfred Haverkamp am Arye Maimon Institut in Trier gelegt. Deren Ergebnisse werden mit den Beiträgen in dem vorliegenden Sammelband im weiteren europäischen Raum verankert, ausgeweitet und gefestigt. Es bleibt nur zu hoffen, dass sie auch in das allgemeine Geschichtsverständnis Eingang finden werden.
Hendrik Mäkeler