Markus A. Denzel, Jean Claude Hocquet und Harald Witthöft (Hrsg.): Kaufmannsbücher und Handelspraktiken vom Spätmittelalter bis zum 20. Jahrhundert – Merchant’s Books and Mercantile Pratiche from the Late Middle Ages to the Beginnings of the 20th Century (Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, Beihefte 163) […], in: Geldgeschichtliche Nachrichten 38 (2003) 213, S. 148-150.
Rezension
Bei seiner inzwischen klassischen Untersuchung zum Berufsbewußtsein des mittelalterlichen Fernhandelskaufmanns hat Erich Maschke neben Qualitäten wie Gewinnstreben und Rechenhaftigkeit, aber auch Gefahrenbewußtsein, Mühe und Arbeit, auf die besondere Bedeutung der Schriftlichkeit hingewiesen: „die mittelalterlichen Kaufleute (müssen) außerordentlich viel geschrieben haben.“[1] Zeugnis von dieser überbordenden Schriftlichkeit legen verschiedene Quellentypen ab. Außer Briefen sind dies vor allem (1) kaufmännische Rechnungsbücher, die zumeist in Form von Personenkonten Aktiva und Passiva einzelner Handelspartner verzeichnen, und (2) Handelspraktiken, in denen das für die praktische Durchführung des Handels notwendige Wissen verzeichnet ist. Dazu zählen – für Numismatiker besonders interessante – Angaben zu den Kursen verschiedener Münzen und Wechselbestimmungen, aber auch Notizen über fremde Maße und Gewichte, die Gebräuche an den Handelsplätzen und vieles mehr. In einem grundlegenden Aufsatz hat Peter Spufford die Handelspraktiken in (2a) Zibaldoni, für den eigenen Gebrauch bestimmte Notizbücher, und (2b) Manuale, zur Veröffentlichung vorgesehene Handbücher, unterteilt.[2] Dieser Aufsatz ist in dem vorliegenden Sammelband erstmals in seiner englischen Originalfassung veröffentlicht, vereint mit weiteren neun Beiträgen über Kaufmannsbücher, die zumeist auf im Jahr 2000 auf dem 19th International Congress of Historical Sciences in Oslo gehaltene Vorträge zurückgehen.
Die Beiträge lassen sich grob gliedern in fünf (Arbeits )Berichte zu Spezialuntersuchungen einzelner Rechnungsbücher bzw. Handelspraktiken und weitere fünf Beiträge, die übergreifende Aspekte anhand mehrerer Quellen verfolgen.
Jean Claude Hocquet legt auf der Grundlage von Informationen aus dem Rechnungsbuch des venezianischen Kaufmanns Giacomo Badoer, der 1436 nach Konstantinopel reiste, eine ausführliche Untersuchung der auf sechs Grundeinheiten basierenden byzantinischen Maße und Handelsgewichte vor (Weights and Measures of Trading in Byzantium in the Later Middle Ages. Comments on Giacomo Badoer’s Account Book, S. 89-116). Darunter befinden sich ebenfalls Geldgewichte, die in dem Rechnungsbuch jedoch eher stiefmütterlich behandelt werden. – Das Buch des Basler Kaufmanns Ulrich Meltinger, das dieser zwischen ca. 1470 und 1493 führte, verzeichnet dagegen neben Geld- und Wechselgeschäften (v.a. auf den Frankfurter Messen) auch zahlreiche Münzsorten, die Meltinger im Zuge seines Handels erhielt und bewerten mußte (Matthias Steinbrink: Item ich han mit im gerechnet. Das Geschäftsbuch des Ulrich Meltinger. Ein Werkstattbericht, S. 117-123).[3] – Einblicke in die Augsburger Zentrale der Fugger ermöglicht eine von Markus A. Denzel vorgestellte Handelspraktik, deren Einträge in die Jahre um 1490 bis 1563 datieren (Eine Handelspraktik aus dem Hause Fugger [erste Hälfte des 16. Jahrhunderts]. Ein Werkstattbericht, S. 125-152). Denzel hat sie insbesondere auf die Frage hin untersucht, welche Handelsplätze darin erläutert werden, und die besondere Bedeutung von Venedig als Vertreterin des traditionellen oberdeutschen Handels nach Norditalien und von Amsterdam als der mit der europäischen Expansion immer wichtiger werdenden Hafenstadt herausstellen können. – Von dem walliserischen „Unternehmer großen Stils“ und Politiker Kaspar Stockalper vom Thurm (1609-1691) sind gleich vierzehn Folianten Handels- und Rechnungsbücher überliefert, dreizehn davon hat Stockalper eigenhändig geführt (Gabriel Imboden: Die Handels- und Rechnungsbücher Kaspar Stockalpers vom Thurm 1609-1691, S. 153-172). In seinen Rechnungen taucht wenig Bargeld auf; vielmehr nehmen Kreditgeschäfte breiten Raum ein. – Harald Witthöfts Beitrag befaßt sich in erster Linie mit der metrologischen Auswertung aller der zwischen 1762 und 1890 erschienenen 20 Auflagen von J.C. Nelkenbrechers „Taschenbuch der Münz, Maaß- und Gewichtskunde“ (Nelkenbrecher’s Taschenbuch on Coins, Measures and Weights [1762-1890] – Economic Historical Projects and Metrological Reflections, S. 173-196). In der Entwicklung ihres Inhalts spiegeln sich etwa die Einführung des Dezimalsystems in Frankreich nach 1789 und die Vereinheitlichung der deutschen Maßsysteme nach 1806 wider. Herrscht in den frühen Auflagen noch die Methode des proportionalen Vergleichs vor, so geht man später zur Umrechnung in die Basiseinheiten der Gewichtssysteme über. Die vermeintlich steigende Präzision der Maße hat dabei schon 1863 der bekannte hannoveraner Numismatiker Hermann Grote (1802-1895) bestritten, wie Witthöft einleitend bemerkt: Auch 1857 wurde den einzelnen Talermünzen noch eine ähnlich hohe Abweichung von ihrem Normgewicht zugestanden wie zuvor.
Der einleitende Beitrag von Markus A. Denzel gibt eine zusammenfassende Übersicht über die Entwicklung und die Inhalte der Kaufmannsbücher (Handelspraktiken als wirtschaftshistorische Quellengattung vom Mittelalter bis in das frühe 20. Jahrhundert. Eine Einführung, S. 11-45). Wichtig sind u.a. Denzels Hinweise darauf, daß die Veröffentlichung des sonst streng gehüteten kaufmännischen Wissens in Buchform einen Tabubruch darstellte (S. 21),[4] und auf Marcus Rudolf Balthasar Gerhardts 1788 erschienenes „Handbuch der Deutschen Münz-, Maß- und Gewichtskunde“ als erste kaufmännische Abhandlung, die auch die historische Entwicklung des Münzwesens berücksichtigt (S. 27). – Peter Spuffords eingangs schon erwähnter Beitrag (Late Medieval Merchant Notebooks: A Project. Their Potential for the History of Banking, S. 47-61) macht u.a. auf die Wurzeln der Erforschung von Kaufmannsbüchern in den späten 1920er Jahren aufmerksam. Damals wollte Norman Gras, Inhaber des Lehrstuhls für Handelsgeschichte an der Harvard University, mit mehreren Mitarbeitern u.a. ein Glossar der spätmittelalterlichen italienischen Münznamen erstellen. Es wurde zwar nie beendet, die Vorarbeiten gelangten im weiteren Verlauf aber an die American Numismatic Society, wo Spufford sie für sein „Handbook of Medieval Exchange“ (London 1986) auswerten konnte und nun publizieren will. – Kurt Weissen beschäftigt sich mit der Beurteilung einzelner Handelsplätze in spätmittelalterlichen italienischen Handelspraktiken (Dove il Papa va, sempre è caro di danari. The Commercial Site Analysis in Italian Merchant Handbooks and Notebooks from the 14th and 15th Centuries, S. 63-73). Je nach Interessenschwerpunkt des mittelalterlichen Verfassers wurden dabei u.a. Kriterien wie die Geschwindigkeit des Geldtransfers und dessen Konditionen, die Entstehung von Wechselkursen und die Gründe für zeitweilig steigende und fallende Geldpreise (Schiffsabgänge, Soldzahlungen, lokale Messen) wahrgenommen. – Die Aufmerksamkeit John Dotsons gilt den Informationen zur Mentalität der Kaufleute, die sich deren Büchern entnehmen läßt (Fourteenth Century Merchant Manuals and Merchant Culture, S. 75-87). Neben Eigenschaften wie der genauen Qualitätsprüfung der Waren, der Sorge um den guten Ruf und der Toleranz gegenüber dem Fremden, die auch Maschke schon angeführt hat, weist Dotson darauf hin, daß Transportverluste mit in die Maßumrechnungen einbezogen wurden und gelegentlich auch Zitate aus der zeitgenössischen schöngeistigen Literatur, hier das Fragment einer italienischen Prosafassung des Tristan, mit in die Kaufmannsbücher aufgenommen wurden. – In seinem abschließenden Beitrag zeichnet Harald Witthöft die großen Linien nach, die durch die einzelnen Beiträge laufen (Handelspraktiken und Kaufmannschaft in Mittelalter und Neuzeit – Rechnen und Schreiben mit Zahlen. Resümee und Perspektiven, S. 197-217). Besonders zu tun ist ihm dabei um die Tatsache, daß sich die „statische Wirtschafts- und Währungsordnung“ der Karolingerzeit in ihren „Rechen-, Zähl-, Münz-, Maß- und Gewichtssystemen“ bis in das 19. Jahrhundert erhalten hat. Wichtig ist Witthöft auch, daß sich teilweise bedeutende inhaltliche Überlappungen zwischen Handelspraktiken und Arithmetikbüchern erkennen lassen. Das kaufmännische Rechnen entwickelte sich damit weg vom Rechnen auf den Linien („ist erdacht umb deren willen, so die buchstaben der Ziffer zale nit gelernet, noch erkantnus haben“, S. 204) und hin zur Verschriftlichung des gedachten Rechnens und Wissens. Auf einen Punkt gebracht: Die kaufmännischen Rechnungsbücher und Handelspraktiken zeigen „ein auf numerischer Erfahrung basierendes frühes statisches Wirtschaften“, das „konstitutive(s) Element einer materiellen Kultur“ war (S. 213).
Der Sammelband bietet erstmals einen Überblick über die Entwicklung kaufmännischer Rechnungsbücher und Handelspraktiken vom Spätmittelalter bis zum Niedergang der Literaturgattung der Handelspraktiken Ende des 19. Jahrhunderts, der im Zusammenhang mit der Vereinheitlichung von Maß- und Münzsystemen zu dieser Zeit steht. Die Beiträge ermöglichen hervorragend den Einstieg in dieses aktuelle Forschungsfeld der Wirtschaftsgeschichte und dessen methodische Probleme. Der Band ist deshalb nicht zuletzt auch für Numismatiker von hohem Interesse, in deren Fachbereich weite Teile der in den Kaufmannsbüchern und Handelspraktiken behandelten Probleme fallen.
Hendrik Mäkeler
- Erich Maschke: Das Berufsbewußtsein des mittelalterlichen Fernkaufmanns, in: Ders.: Städte und Menschen. Beiträge zur Geschichte der Stadt, der Wirtschaft und Gesellschaft 1959-1977 (Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, Beihefte 68), Wiesbaden 1980, S. 380 419, hier S. 391 f. – Der Aufsatz geht von umfangreichen Forschungen aus, die sich gegen die 1902 von Werner Sombart aufgestellte These richten, Erwerbsprinzip und ökonomischer Rationalismus seien dem mittelalterlichen Kaufmann fremd gewesen und erst mit dem Kapitalismus beherrschend geworden: Ebd., S. 381 f. [↩]
- Peter Spufford: Spätmittelalterliche Kaufmannsnotizbücher als Quelle zur Bankengeschichte. Ein Projektbericht, in: Michael North (Hrsg.): Kredit im spätmittelalterlichen und frühneuzeitlichen Europa (Quellen und Darstellungen zur Hansischen Geschichte, Neue Folge 37), Köln u. Wien 1991, S. 103 120. – Nur am Rande ist zu bemerken, daß sich kaum eine Quelle problemlos in diese idealtypische Differenzierung einfügen läßt. Dies wird schon daran deutlich, daß sämtliche Beiträge des Sammelbandes unterschiedliche Bezeichnungen für ihre jeweilige(n) Quelle(n) wählen. [↩]
- Ich danke Herrn Steinbrink für die freundliche Erlaubnis, in das Währungsregister der in Vorbereitung befindlichen Quellenedition Einblick zu nehmen. [↩]
- Auch wenn Harald Witthöft ihm in seinem Resümee in dieser Ansicht nicht zustimmt (S. 206). [↩]